In einem wechselwirkenden Doppelsternsystem beeinflussen sich die beiden Sterne gegenseitig, z. B. durch Austausch
von Materie. Damit es aber überhaupt zu einem solchen Massentransfer kommen kann, muß zumindest ein Stern
seine sogenannte Roche-Grenze ausfüllen oder überschreiten.
Roche-Grenze
Umkreisen sich zwei Sterne in einem Doppelsternsystem, so gibt es um jeden Stern einen Bereich oder ein Volumen,
wo die Schwerkraft dieses einen Sterns wirkt. Wegen der Gezeitenkräfte der Sterne sind diese Bereiche
tropfenförmig, wobei deren Ausrichtung immer zum jeweiligen Partnerstern zeigt. Die beiden
tropfenförmigen Bereiche berühren sich also an der Spitze. Bringt man Materie in einen dieser
Bereiche, so fällt sie auf den jeweiligen Stern zurück.
Roche-Volumen
Innerhalb dieses Volumens wirkt nur die Schwerkraft eines Sterns (Pfeile)
© Mario Lehwald
Diese tropfenförmigen Bereiche werden als Roche-Volumen und deren Grenzen als
Roche-Grenze bezeichnet. Da sich beide Sterne umkreisen, wirkt zusätzlich zur
Schwerkraft noch die Fliehkraft. Die Fliehkraft wird umso größer, je weiter man sich von einem Stern
nach außen, also von der Verbindungslinie zwischen den beiden Sternen, wegbewegt. Schließlich
gibt es einen Punkt, wo die Fliehkraft größer wird als die Schwerkraft.
Die Größe des Roche-Volumens hängt von den Massen der beiden Sterne und deren Abstand ab. Bei
einem Doppelsternsystem gibt es drei grundlegende Möglichkeiten:
1. Beide Sterne sind deutlich kleiner als ihr Roche-Volumen. Kein Stern
beeinflußt materiemäßig den anderen. Man bezeichnet so ein Doppelsternsystem als
getrenntes System.
Getrenntes System
Jeder Stern liegt innerhalb seines Roche-Volumens
© Mario Lehwald
2. Ein Stern ist kleiner als sein Roche-Volumen, sein größerer Partner jedoch
überschreitet sein Roche-Volumen, da er sich z. B. zu einem Roten Riesen entwickelt oder beide
Sterne extrem nahe umeinander kreisen. Damit kann Materie von dem größerer Partnerstern auf den
Begleiter fließen. Man bezeichnet so ein Doppelsternsystem als halbgetrenntes
System.
Halbgetrenntes System
Ein Stern überschreitet sein Roche-Volumen (z. B. als Roter Riese),
wobei von ihm Materie auf den Partnerstern fließt
© Mario Lehwald
3. Beide Sterne sind so größer wie ihr Roche-Volumen. Man bezeichnet so
ein Doppelsternsystem als Kontaktsystem. In diesem Fall sind die beiden Sterne
stark verformt.
Kontaktsystem
Beide Sterne sind so groß wie ihr Roche-Volumen
und stark verformt
© Mario Lehwald
4. Beide Sterne überschreiten ihr Roche-Volumen und sind von einer
gemeinsamen Hülle umgeben. Man bezeichnet so ein Doppelsternsystem als
Überkontaktsystem.
Überkontaktsystem
Beide Sterne überschreiten ihr Roche-Volumen
und sind von einer gemeinsamen Hülle umgeben
© Mario Lehwald
Die Fälle 2, 3 und 4 bezeichnet man auch als wechselwirkendes Doppelsternsystem.
Entwicklung eines wechselwirkenden Doppelsternsystems
Da beide Sterne in einem Doppelsternsystem immer leicht unterschiedlich sein werden was die Masse usw. angeht,
wird immer ein Stern zuerst sein Lebensende erreichen. Damit wird in einem Doppelsternsystem ein bestimmter
Entwicklungsvorgang durchlaufen. In einem Doppelsternsystem mit zwei masseärmeren Sternen sieht dieser
etwa so aus:
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Die beiden Sterne eines Doppelsternsystems, dessen Massen leicht unterschiedlich sind, sind zunächst
ganz normale Hauptreihensterne.
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Der massereichere Stern hat zuerst seinen Wasserstoff verbraucht und entwickelt sich langsam zu einem
Roten Riesen.
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Der sich entwickelnde Rote Riese überschreitet seine Roche-Genze, womit Materie von diesem auf seinen
masseärmeren Partnerstern überfließt. Der Partnerstern ist weiterhin ein normaler
Hauptreihenstern.
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Der Rote Riese dehnt sich schneller aus, als Masse auf seinen Partnerstern fließen kann. Weil nicht die
gesamte Materie auf den Partnerstern fließt, wird dieser quasi in die Materie des Roten Riesen
eingehüllt.
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Es bildet sich eine gemeinsame Hülle um beide Sterne aus. Man spricht hier auch von einer
Common Envelope Phase, was auf deutsch soviel heißt wie gemeinsame
Hüllen-Phase.
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Der Partnerstern (der Hauptreihenstern) befindet sich nun in der Hülle des Roten Riesen, was einen
Verlust von Drehmoment zur Folge hat. Dadurch nähern sich beide Sterne langsam einander an.
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Ein Teil des Drehmomentes wird auf die gemeinsame Hülle übertragen, womit diese langsam in den
Raum abgestoßen wird.
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Der noch vorhandene Kern des Roten Riesen wird zu einem Weißen
Zwerg. Nun besteht das Doppelsternsystem aus einem Hauptreihenstern und einen Weißen Zwerg, wobei
der Hauptreihenstern durch den Massetransfer von dem ehemaligen Roten Riesen mehr Masse besitzt wie vorher.
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Nach einer bestimmten Zeit wird auch bei dem Hauptreihenstern, also dem zweiten Stern des Doppelsternsystems,
der Wasserstoff verbraucht sein. Er dehnt sich ebenfalls zu einem Roten Riesen aus.
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Der sich ausdehnende Rote Riese überschreitet die Roche-Grenze, womit Materie von diesem auf den
Weißen Zwerg fließt.
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Um den Weißen Zwerg bildet sich eine Akkretionsscheibe, von der die Materie auf den Weißen Zwerg
fließt.
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Eventuell kommt es zu einem Nova-Ausbruch, wenn die einfallende Materie
auf der Oberfläche des Weißen Zwerges so stark erhitzt wird, dass explosionsartig Kernfusion
einsetzt.
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Durch den Massetransfer nimmt die Masse des Weißen Zwerges langsam zu.
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Überschreitet die Masse des Weißen Zwerges die Chandrasekhar-Massegrenze von 1,44 Sonnenmassen,
ist er nicht mehr stabil und kollabiert sehr rasch. Dadurch setzt schlagartig die Fusion des Kohlenstoffs
im Weißen Zwerg ein und es kommt zu einer Supernovaexplosion
des Typs Ia. Der Weiße Zwerg wird durch die Supernova völlig zerstört. Sein Begleitstern,
der Rote Riese, wird dabei weggeschleudert, weil es nach der Zerstörung des Weißen Zwerges keinen
gemeinsamen Schwerpunkt mehr gibt.
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Bleibt die Masse des Weißen Zwerges unter der Chandrasekhar-Massegrenze von 1,44 Sonnenmassen, bleibt
dieser bestehen.
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Bei weiterer Ausdehnung des Partnersterns zu einem Roten Riesen wird eine zweite
Common Envelope Phase durchlaufen.
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Die gemeinsame Hülle wird später abgestoßen und von dem Partnerstern bleibt ebenfalls
ein Weißer Zwerg übrig.
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Das Doppelsternsystem besteht nun aus zwei Weißen Zwergen. Diese können bei weiterer Annäherung
miteinander verschmelzen, wobei es bei Überschreitung der Chandrasekhar-Massegrenze von 1,44 Sonnenmassen
zu einer Supernova vom Typ Ia kommt.
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Bleibt die Masse der verschmelzenden Weißen Zwerge unter 1,44 Sonnenmassen, entsteht aus der Verschmelzung
meist ein neuer Stern.